Neutral - zu
wessen Gunsten?
Uri Avnery,
4.1.14
EINEM
ehemaligen israelischen Armeestabschef, einer Person mit
begrenzter Intelligenz, wurde erzählt, dass eine gewisse
Person ein Atheist sei. „Ein jüdischer Atheist oder ein
christlicher Atheist?“ fragte er.
Lenin wurde
einst in seinem Schweizer Exil nach der Parteizugehörigkeit
eines neu gewählten Mitglieds der Duma gefragt: „Oh, er ist
nur ein Dummkopf!“ behauptete sein Assistent. Lenin
antwortete ungeduldig. „Ein Dummkopf, in welcher Beziehung
denn?“
Ich bin
versucht, eine ähnliche Frage gegenüber Leuten zu stellen,
die angepriesen werden, als wären sie unserm Konflikt
gegenüber neutral. „Neutral, wem gegenüber?“
DIE FRAGE kam
mir in den Sinn, als ich einen israelischen Dokumentarfilm
über die US-Unterhändler sah, die während der letzten gut 40
Jahre versuchten, Frieden zwischen den Palästinensern und
uns zu vermitteln.
Aus
irgendeinem Grund waren die meisten von ihnen Juden.
Ich bin mir
sicher, dass sie alle treue amerikanische Bürger waren, die
bei jeder Vermutung, sie würden einem fremden Land dienen,
wie z.B. Israel, ernsthaft beleidigt wären. Sie glaubten
ehrlich, sie seien in unserm Konflikt neutral.
Aber waren
sie neutral? Sind sie neutral? Können sie es sein?
Meine Antwort
ist: nein, sie konnten es nicht.
Nicht weil
sie unehrlich waren. Nicht weil sie bewusst einer Seite
dienten. Gewiss nicht, daran darf man gar nicht denken
Sondern aus
einem viel tieferen Grund. Sie sind mit der Geschichte nur
der einen Seite aufgewachsen. Sie haben von Kindheit an nur
die Geschichte und Terminologie der einen Seite –unserer
Seite – verinnerlicht. Sie konnten sich so gar nicht
vorstellen, dass die andere Seite ein anderes Narrativ mit
einer anderen Terminologie hat.
Dies hindert
sie nicht daran, neutral zu sein. Neutral für eine Seite.
Übrigens gibt
es in dieser Hinsicht keinen großen Unterschied zwischen
amerikanischen Juden und anderen Amerikanern. Sie haben von
Kindheit an gewöhnlich dieselbe Geschichte und Ideologie
gehört, die sich auf die hebräische Bibel gründet.
NEHMEN WIR
das letzte Beispiel. John Kerry bringt den Entwurf eines
Planes für die Lösung des Konfliktes mit.
Er wurde
sorgfältig von einem Expertenstab vorbereitet. Und was für
ein Stab! 160 engagierte Personen!.
Ich will
nicht fragen, wie viele von ihnen jüdische Landsleute sind.
Allein die Frage hat einen antisemitischen Hauch. Jüdische
Amerikaner sind wie alle anderen Amerikaner. Loyal
gegenüber ihrem Land, neutral in unserm Konflikt
Neutral, wem
gegenüber?
Nun lasst uns
den Plan ansehen. Unter vielen anderen Vorkehrungen sieht
er vor, dass israelische Truppen im palästinensischen
Jordantal stationiert sind. Eine vorläufige Maßnahme. Für
nur 10 Jahre. Danach wird Israel entscheiden, ob seine
Sicherheitsbedürfnisse damit getroffen worden sind. Wenn
seine Antwort negativ ist, werden die Soldaten dort solange
bleiben, wie es nötig ist – nach israelischem Urteil.
Für neutrale
Amerikaner klingt dies ganz vernünftig. Die Palästinenser
bekommen einen freien und souveränen Staat. Das Jordantal
wird Teil dieses Staates sein. Wenn die Palästinenser ihre
lang ersehnte Unabhängigkeit erreicht haben, warum sollten
sie sich um solch eine Bagatelle Probleme machen? Wenn sie
keine militärische Aktion gegen Israel vorhaben, warum sich
darüber Gedanken machen?
Logisch für
den, der ein Israeli ist oder ein Amerikaner. Aber nicht für
einen Palästinenser.
Für einen
Palästinenser besteht das Jordantal aus 20% ihres
mutmaßlichen Staates, der im Ganzen aus 22% des Gebietes
besteht, das sie als ihr historisches Heimatland betrachten.
Und weil sie - nach ihren Erfahrungen - glauben, dass es
sehr wenig Chancen gibt, dass Israel sich je von einem Stück
Land freiwillig zurückziehen wird, das es einmal
übernommen ha. Und weil die dauernde militärische Kontrolle
des Tales den Israelis erlauben würde, den Staat Palästina
von jedem Kontakt mit der arabischen - ja sogar mit der
ganzen - Welt abschneiden würde.
Und da gibt
es noch etwas wie den nationalen Stolz und die Souveränität.
Man stelle
sich mexikanische – oder gar kanadische Soldaten vor, die
auf 20% des USA-Gebietes stationiert wären. Oder
französische Soldaten kontrollieren 20% Deutschlands. Oder
russische Truppen 20% von Polen. Oder serbische Truppen in
Kosowo.
Unmöglich,
würde man sagen. Warum nehmen amerikanische Experten für
selbstverständlich, dass Palästinenser anders sind? Dass
ihnen dies nichts ausmachen würde?
Weil sie eine
bestimmte Vorstellung von Israelis und Palästinensern haben.
DERSELBE
Mangel an Verständnis herrscht natürlich in den Beziehungen
zwischen den beiden Seiten selbstvor.
Am letzten
Tag des Jahres 2013 musste Israel 26)palästinensische
Gefangene entlassen, die seit vor dem Oslo-Abkommen 1993
gefangen waren. Dies war ein Teil des Vorverständnisses, das
John Kerry vor Beginn der gegenwärtigen Verhandlungen
erreicht hatte.
Jedes Mal,
wenn so etwas geschieht, gibt es einen Aufschrei in Israel
und Freude in Palästina. Nichts erklärt die psychische Kluft
zwischen beiden Völkern klarer als diese gegensätzlichen
Reaktionen.
Für die
Israelis sind diese Gefangenen abscheuliche Mörder,
ekelhafte Terroristen mit „Blut an ihren Händen“. Für die
Palästinenser sind sie Nationalhelden, Soldaten für die
geheiligte palästinensische Sache, die mehr als 20 Jahre
ihres jungen Lebens für die Freiheit ihres Volkes geopfert
haben.
Tagelang
berichteten alle israelischen Medien mehrmals am Tag über
Demonstrationen von betroffenen israelischen Müttern, die
große Fotos ihrer Söhne und Töchter, von Ehemännern und
–Ehefrauen in ihren Händen trugen und ihrem Schmerz gegen
die Entlassung ihrer Mörder hinausschrien. Direkt danach
kommen Szenen aus Ramallah und Nablus von den Müttern der
Gefangenen, die die Fotos ihrer Lieben umklammert hielten:
sie tanzten und sangen vor Erwartung über ihre Ankunft.
Viele
Israelis schrecken bei diesem Anblick zurück. Aber die
Editoren und Moderatoren wären erstaunt, wenn man ihnen
gesagt hätte, dass sie absichtlich die Leute gegen die
Gefangenenentlassung und – indirekt gegen die
Friedensverhandlungen aufstacheln würden. Warum? Wie? Es
ist doch ein ehrlicher Bericht!
Die Bibel
erzählt uns: dass nachdem König Saul im Krieg gegen die
Philister getötet wurde, König David sagte: „Sagt‘s
nicht denen in Gath, verkündet’s nicht auf den
Gassen in Ashkalon, dass sich nicht freuen
die Töchter der Philister und nicht frohlocken die Töchter
der Unbeschnittenen.“ (2.Sam.1.20)
Benjamin
Netanjahu ging in dieser Woche noch weiter. Er hielt eine
Rede und denunzierte die palästinensische Führung. Wie
können sie nur diese Demonstration der Freude organisieren?
Was sagt das über die Aufrichtigkeit von Mahmoud Abbas? Wie
konnten sie sich beim Anblick dieser abscheulichen Mörder
freuen, die unschuldige Juden umgebracht haben? Beweist das
nicht, dass sie gar nicht ernsthaft nach Frieden suchen,
dass sie alle Terroristen sind, die sich im Herzen nicht
verändert haben und nach jüdischem Blut lüstern? Also
können wir lange, lange Zeit keinerlei Sicherheitsmaßnahmen
aufgeben.
Als die
Gefangenen selbst vom israelischen TV unmittelbar nach ihrer
Entlassung interviewt wurden, behaupteten sie in
ausgezeichnetem Hebräisch (das sie im Gefängnis gelernt
hatten), dass es Hauptsache sei, Frieden zu erreichen. Als
einer von ihnen gefragt wurde, sagte er: „Gibt es einen
einzigen Israeli – von Netanjahu abwärts - der nicht Araber
getötet hat?“
DIESE KLUFT
zwischen den Wahrnehmungen ist – meiner Meinung nach – das
größte Hindernis auf dem Weg zum Frieden.
Netanjahu gab
uns in dieser Woche noch ein schönes Beispiel. Er sprach
über die ständige Hetze gegen Israel in palästinensischen
Schulbüchern. Dieser Punkt der israelischen Propaganda vom
rechten Flügel taucht zu jeder Zeit auf, wenn die andern
Argumente ausgeleiert sind
Wie kann da
Frieden werden, rief Netanjahu aus, wenn palästinensische
Kinder in ihrem Unterricht lernen, dass Haifa und Nazareth
ein Teil Palästinas sind? Dies bedeutet, dass sie dahin
erzogen werden, Israel zu zerstören!
Dies ist so
erstaunlich, dass man nur die Luft anhalten kann. Ich denke
nicht, dass es ein einziges hebräisches Schulbuch gibt, das
nicht die Tatsache erwähnt, dass Jericho und Hebron ein Teil
von Eretz Israel sind. Um dies zu ändern, müsste man die
Bibel abschaffen.
Haifa und
Hebron, Jericho und Nazareth sind alle ein Teil desselben
Landes, auf Arabisch Palästina genannt und Eretz Israel auf
Hebräisch. Sie sind alle tief verwurzelt im Bewusstsein der
beiden Völker. Ein Kompromiss zwischen ihnen bedeutet nicht,
dass sie ihre historischen Erinnerungen aufgeben, sondern
dass sie mit der Teilung des Landes in zwei politische
Entitäten einverstanden sind.
Netanjahu und
seine Klicke kann sich das nicht vorstellen, und deshalb
sind sie nicht in der Lage, Frieden zu machen. Auf der
palästinensischen Seite gibt es sicher viele Leute, die dies
auch unmöglich oder zu schmerzlich finden.
Ich frage
mich, ob irische Schulbücher 400 Jahre englische
Herrschaft oder Gräuel vergessen haben. Ich bezweifle es.
Ich frage mich auch, wie englische Schulbücher dieses
Kapitel ihrer Geschichte behandeln.
Auf jeden
Fall, wenn eine unabhängige (neutrale ?) Kommission von
Experten alle Schulbücher in Israel und Palästina prüfen
würden, dann würden sie sehr wenig Unterschiede zwischen
ihnen finden. Von Israels vier jüdischen Schulsystemen
(national, national-religiös, westlich-orthodox und
östlich-orthodox) sind wenigstens die drei religiösen so
national-rassistisch, dass ein palästinensischer Konkurrent
in Bedrängnis geraten würde, wenn er sie übertrumpfen würde.
Keines von ihnen sagt etwas über die Existenz eines
palästinensischen Volkes, geschweige denn dass es
irgendwelche Rechte über das Land besitzen könnte. Gott
verhindere es! (buchstäblich!)
UM MEHR zu
sein als nur ein zerbrechlicher Waffenstillstand, benötigt
Frieden Versöhnung. Sieh Mandela. Versöhnung ist unmöglich,
wenn beide Seiten das Narrativ der andern Seite, ihre
Geschichte, ihren Glauben, ihre Vorstellungen und Mythen
total ignorieren.
John Kerry
benötigt keine 160 oder 1600 Experten, neutrale oder anders
Geartete . Er braucht einen guten Psychologen oder
vielleicht zwei.
Man kann
leicht die Gefühle einer Mutter verstehen, deren Sohn von
einem palästinensischen Militanten getötet wurde. Wenn man
versucht, kann man auch die Gefühle einer Mutter verstehen,
deren Sohn von seinem Führer den Befehl bekam, Israelis
anzugreifen, und der nach 30 Jahren Gefängnis zurückkehrt.
Nur wenn die
amerikanischen Vermittler neutral oder andersartig sind und
beide Seiten verstehen, können sie versuchen, den Frieden
zu fördern.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)